Illegal betriebene Antennen müssen sogar abgeschaltet werden Medienmitteilung: «5G-Ausbau: Bundesgericht pfeift Regierungsrat des Kantons Obwalden zurück»

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Zürich, 19. Oktober 2024 Ein zweiter wegweisender Bundesgerichtsentscheid neutralisiert die Empfehlung der Bau-, Planungs- und Umweltdirektoren-Konferenz (BPUK) zur Umrüstung von Mobilfunkantennen – mit Folgen für rund zwei Drittel aller adaptiven 5G-Antennen der Schweiz.

Mit dem Urteil vom 29. August 2024 heisst das Bundesgericht die Beschwerde zweier Privatpersonen aus Sarnen in vierter Instanz gut. Das Verfahren zog sich fünf Jahre hin. Bereits am 13. Oktober 2019 verlangten Anwohner der Gemeinde Sarnen die Durchführung eines nachträglichen Baubewilligungsverfahrens und die Anordnung eines vorsorglichen Benützungsverbots einer bestehenden Mobilfunkantenne, die durch die Betreiberin Swisscom ohne Bewilligung und öffentliche Publikation umgerüstet wurde.

Bewilligung im Durchwinkeverfahren

Sarnen ist ein Präzedenzfall. Ordnungsgemäss informierte das Amt für Landwirtschaft und Umwelt des Kantons Obwalden (ALU/OW) das Bauamt der Gemeinde Sarnen über die Pläne von Swisscom: An besagter Mobilfunkantenne solle nicht nur die Sendeleistung neu verteilt werden, es würden auch bestehende Antennen durch adaptive Antennen ersetzt, neue Frequenzen genutzt und damit der Sendemast mit 5G aufgerüstet. Da das Amt – fälschlicherweise – von einer so genannten Bagatelländerung im Sinne der Empfehlungen der BPUK ausging, könne auf die Durchführung eines Baubewilligungsverfahrens verzichtet werden. So wurden die Veränderungen an der bestehenden Mobilfunkantenne ohne Möglichkeit zur Einsprache durchgewunken und Swisscom baute die Antenne in vermeintlicher Rechtssicherheit um.

Als Anwohnende Kenntnis von dieser Antennenaufrüstung erhielten, reichten sie bei der Einwohnergemeinde Sarnen Beschwerde ein. Doch diese Beschwerde wurde nicht nur vom Sarner Gemeinderat (am 20. April 2020), sondern auch vom Regierungsrat Obwalden (am 15. Juni 2021) sowie vom Verwaltungsgericht des Kantons Obwalden (am 8. Juni 2022) abgewiesen.

Erfolg für die beschwerdeführenden Bürgerinnen und Bürger

Also sahen sich die Beschwerdeführenden gezwungen, den Fall ans Bundesgericht weiterzuziehen. Dort beantragten sie die Aufhebung des Obwaldner Verwaltungsgerichtsentscheids. Per 29. August 2024, also 5 Jahre nach der Eingabe beim Gemeinderat Sarnen, heisst das Bundesgericht die Beschwerde der Anwohnerinnen und Anwohner der Gemeinde Sarnen gut: «Der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Obwalden vom 8. Juni 2022 wird aufgehoben und die Sache an den Einwohnergemeinderat Sarnen zurückgewiesen zur Durchführung eines Baubewilligungsverfahrens.» An diesem Entscheid überrascht besonders: «Die Beschwerdegegnerin hat den Betrieb der Antennen im Sinne der Erwägung einzustellen.» (BGE 1C_414/2022)

«Die Beschwerdegegnerin hat den Betrieb der Antennen im Sinne der Erwägung einzustellen.» BGer 1C_414/2022

Manipulationen an 5G-Antennen grundsätzlich bewilligungspflichtig

Dem «Fall Sarnen» können weitere hinzugefügt werden. So wies das Bundesgericht im April dieses Jahres eine Beschwerde von Swisscom gegenüber der Gemeinde Wil SG ab. Für die Umrüstung der bestehenden Mobilfunkantennen auf Korrekturfaktor wird – entgegen der irrigen Meinung von Swisscom – eine Baubewilligung benötigt. Die Begründung des Bundesgerichts: Es handle sich bei dieser Manipulation der Antenne um eine «faktische Änderung des Betriebs». Darum bestehe ein Interesse der Anwohnenden, vorgängig über solche Veränderungen informiert zu werden. Da eine erhöhte Strahlenbelastung nicht unmittelbar spürbar sei, sei «die Durchführung eines ordentlichen Baubewilligungsverfahrens geboten, um das rechtliche Gehör und den Rechtsschutz der betroffenen Personen in zumutbarer Weise zu gewährleisten.» (BGE 1C_506/2023, wir berichteten: hier und hier)

Rechtssicherheit und Glaubwürdigkeit der Behörden

Es liegt im Wesen einer Baubewilligung, dass sie ausgeschrieben werden muss, damit gegebenenfalls eine Einsprache gegen sie eingereicht werden kann. Gibt es kein Baubewilligungsverfahren, können Änderungen an Mobilfunkanlagen heimlich durchgeführt werden. Die BPUK empfahl, auf Baubewilligungsverfahren zu verzichten, obwohl das dem Raumplanungsgesetz widerspricht. Ein Bewilligungsverfahren erlaubt den Anwohnern, vor jedem Umbau einer Antenne zu prüfen, ob die geltenden Vorschriften wie beispielsweise die Verordnung über den Schutz vor nichtionisierender Strahlung (NISV) eingehalten sind. Um diesen Schutz zu gewährleisten, braucht es Rechtssicherheit, d.h. die landesweit konsequente Umsetzung des Gesetzes.

BPUK mit Falschaussagen

Zur bisherigen Unsicherheit trug nicht zuletzt die BPUK bei. In einer Medienmitteilung vom 7. März 2022 hiess es noch, dass «… der Ersatz einer konventionellen durch eine adaptive Antenne, der Ersatz einer adaptiven durch eine andere adaptive Antenne sowie die Leistungsumverteilung zwischen konventionellen und adaptiven Antennen mit Korrekturfaktor als Bagatelländerungen betrachtet werden», also keiner Baubewilligung bedürfen. Diese Empfehlung basierte auf einer groben Fehlinterpretation des Raumplanungsgesetzes und steht im direkten Widerspruch mit den Empfehlungen der eigenen Rechtsgutachter der BPUK, wie die beiden beschriebenen Bundesgerichtsentscheide zeigen. Die Folge dieser falschen Empfehlung sind schätzungsweise 3000 Verfahren, die nun anlaufen könnten. Diese Zahl könnte sich verdoppeln, wenn weitere unbewilligte Umverteilungen der Sendeleistung, der Ersatz bestehender Antennen, die Einführung neuer Frequenzen oder die Aufrüstung auf 5G ohne die entsprechende Baubewilligung vorliegen. Und unter Umständen müssen rund ein Drittel der adaptiven Antennen in der Schweiz, die ohne Baubewilligung umgebaut wurden, ganz abgeschaltet werden.

Was bisher als Bagatelländerung galt

Welche Änderungen an einer Mobilfunkanlage einer Baubewilligung bedürfen und welche nicht, ist seit bald zwanzig Jahren ein Streitpunkt. In der Verordnung über den Schutz vor nichtionisierender Strahlung NISV finden sich die Kriterien, wann eine Manipulation an einer Antenne eine «Änderung» im rechtlichen Sinn darstellt. Damit ist aber noch nicht gesagt, ob diese Manipulation baubewilligungspflichtig ist oder nicht. Die Baubewilligungspflicht ergibt sich daraus, ob die Änderung in der Lage ist, die Auswirkungen auf die Umwelt zu verändern. Praktisch heisst das: Wenn die Strahlung an einem oder mehreren Orten zunehmen kann, beispielsweise weil das neue Antennenmodell etwas breiter strahlt als das alte Modell, dann besteht eine Baubewilligungspflicht.

Zwei Änderungen an Antennen galten bisher als sogenannte «Bagatelländerungen», sind jedoch - entgegen der Empfehlungen der BPUK - baubewilligungspflichtig:

Fall A) Umbau der Antenne von konventioneller Antenne auf adaptive Antenne oder Antenne mit einem anderen Antennendiagramm (Änderung der Senderichtung), mit und ohne Veränderung des Volumens

Fall B) Anwendung des Korrekturfaktors auf einer adaptiven Antenne

In zahlreichen Fällen bauten die Betreiber die Antenne zuerst ohne Baubewilligung auf eine adaptive Antenne um und wandten ein Jahr später – erneut ohne Baubewilligung – den Korrekturfaktor an (Fall C).

Die BPUK steht jetzt in der Pflicht

Nach dem Entscheid im Fall Wil SG im April 2024 versandte die BPUK am 11. Juni dieses Jahres eine korrigierte Empfehlung an ihre Mitglieder, wo unter anderem dazu aufgefordert wird, «über die zuständigen Behörden den Mobilfunkbetreiberinnen ein Schreiben zukommen zu lassen, das sie auffordert, innert 6 Monaten die Baugesuche einzureichen oder den Korrekturfaktor abzuschalten.» Die Mobilfunkbetreiber dürften gemäss der BPUK also ihre Antenne mit bis zu zehn Mal höherer Leistung als bewilligt weiterlaufen lassen, solange sie pünktlich ein nachträgliches Baugesuch einreichen. Auch diese BPUK-Empfehlung ist nach dem Entscheid Sarnen nicht mehr gültig: Alle Bestandteile und allenfalls der Korrekturfaktor, die widerrechtlich in Betrieb genommen wurden, müssen in jedem Fall abgeschaltet werden. In einigen Fällen muss also die gesamte Antenne vom Netz genommen werden (siehe Kasten «Was bisher als Bagatelländerung galt»).

Die BPUK und die Bundesämter sind nun in der Pflicht, rechtskonforme und rechtssichere Empfehlungen zu veröffentlichen und die weit verbreiteten Dokumente wie «Adaptive Antennen – Nachtrag zur Vollzugsempfehlung zur NISV» zu korrigieren. Dabei sind rechtlich unhaltbare Aussagen wie «dass es sich bei unbewilligt betriebenen Korrekturfaktoren um ein formelles Defizit handelt und die Grenzwerte trotzdem eingehalten sind» zu unterlassen. Denn es sind gerade die adaptiven 5G-Antennen mit Korrekturfaktor, welche die Strahlungsgrenzwerte überschreiten, obwohl sie eigentlich mit weniger Strahlung mehr Daten übertragen könnten.

Auch «Buebetrickli» haben kurze Beine

Es ist nicht zuletzt der Aufmerksamkeit und dem Durchhaltevermögen der betroffenen Bürgerinnen und Bürger aus Sarnen zu verdanken, dass schrittweise Ordnung in die Geschichte rund um die Einführung von 5G kommt. Die Geschichte zeigt: Es hätte sich für die Behörden und Betreiber gelohnt, die Rechte der Bevölkerung zu berücksichtigen und sich auf keine «Buebetrickli» einzulassen. Stattdessen müssen nun die Gemeinden, Kantone und Antennenanwohner die Versäumnisse der BPUK und des Bundes ausbaden.

Der Verein Schutz vor Strahlung betrachtet es als seine Pflicht, Gesetzeswillkür bei den Bewilligungsverfahren im Ausbau des Mobilfunknetzes aufzudecken und auf Rechtssicherheit zu drängen. Gleichzeitig befürworten wir den raschen Ausbau des Glasfasernetzes in der ganzen Schweiz, um den Datenverkehr durch Kabel zu führen und so die Mobilfunkstrahlung einzugrenzen und den ungehinderten Datenfluss ohne Strahlungsemissionen zu fördern.

 

Medienkontakt

Medienkontakt Verein Schutz vor Strahlung
Rebekka Meier, Präsidentin
rebekka.meier@schutz-vor-strahlung.ch
032 652 61 61

Quellen und Links

Bundesgerichtsentscheid Fall Sarnen (BGE 1C_414/2022)

Bundesgerichtsentscheid Fall Wil (BGE 1C_506/2023)

Verordnung über den Schutz vor nichtionisierender Strahlung (NISV)

Bundesgesetz über die Raumplanung (Raumplanungsgesetz)

«BPUK mit neuen Mobilfunkempfehlungen», Medienmitteilung der BPUK vom 7. März 2022 [PDF]

«Adaptive Mobilfunk-Antennen mit aufgeschaltetem Korrekturfaktor – Weiteres Vorgehen», Information an alle Mitglieder der BPUK vom 11. Juni 2024 [PDF]

 

Lockerung der vorsorglichen Emissionsbegrenzung ist unzulässigMedienmitteilung: «Jetzt den Korrekturfaktor abschaffen und 3’000 Einspracheverfahren verhindern!»

Nach dem Bundesgerichtsentscheid «Wil SG» ist klar: Rund 3‘000 Mobilfunkantennen funktionieren derzeit mit nicht bewilligter, zu grosser Leistung. Die meisten von ihnen überschreiten durch die Anwendung des sogenannten «Korrekturfaktors» regelmässig die Grenzwerte. Die Kantone empfehlen daher den Gemeinden neu, von den Mobilfunkbetreibern ein neues Baugesuch oder das Ende des Korrekturfaktor-Betriebs zu verlangen. Damit ist bis Ende Dezember 2024 eine Verdoppelung der hängigen Verfahren von heute 3‘000 auf 6‘000 zu erwarten. Diese Situation ist für Behörden, Antennen-Anwohner und Gerichte untragbar geworden. Hauptursache für diese Einspracheflut sowie das Ausbau-Chaos sind der Korrekturfaktor und die damit verbundenen Grenzwertüberschreitungen. Die stetige Zunahme an Mobilfunkanlagen, trotz Abschwächung des mobilen Datenwachstums, verstärkt das Problem. Der Verein Schutz vor Strahlung und die Einsprechenden verlangen unisono die Abschaffung des Korrekturfaktors und einen Antennen-Neubau-Stopp! Stattdessen sollen das Glasfasernetz zur Entlastung des Mobilfunknetzes (bis minus 30% der Antennen durch Trennung von Innen-/Aussenbereich) ausgebaut sowie eine Mobilfunkplanung mit Mitspracherecht eingeführt werden. Nur so nimmt das immer komplexer werdende Mobilfunk-Ausbau-Chaos ein Ende und macht den Weg frei für Rechtssicherheit für alle Beteiligten.

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