Grenzwertüberschreitungen Bundesgericht: Der Korrekturfaktor bedeutet Wegfall einer vorsorglichen Emissionsbegrenzung

in 5G, Mobilfunk

Nach drei Jahren Rechtsunsicherheit und hunderten bereits bewilligten adaptiven Antennen beschloss der Bundesrat im Dezember 2022: Adaptive 5G-Antennen dürfen regelmässig viel stärker strahlen – sogar ohne erneute Baubewilligung und Einsprachemöglichkeit! Die zahlreichen Überschreitungen der Anlagegrenzwerte befeuerten den Widerstand in der Bevölkerung, was tausende Einsprachen zur Folge hatte. Doch Menschen ohne Einsprachemöglichkeit fühlten sich übergangen und betrogen. Das «Buebetrickli», mit dem die Leistungserhöhung verschleiert wird, heisst in der Fachsprache «Korrekturfaktor». Er ist also die Ursache tausender Einsprachen. Das Bundesgericht erklärt den Korrekturfaktor nun als baubewilligungspflichtig. BGE 1C_506/2023

Adaptive Antennen mit Korrekturfaktor müssen die bewilligte Leistung nur im Durchschnitt einhalten und überschreiten dadurch regelmässig die Grenzwerte. Doch das Bundesgericht macht nun den Plänen des Bundesrats zur schnellen 5G-Einführung einen Strich durch die Rechnung: Die Anwendung des Korrekturfaktors ist jetzt baubewilligungspflichtig. Ausserdem bedeutet der Korrekturfaktor den Wegfall oder eine Abschwächung der vorsorglichen Emissionsbegrenzung. Das ist nichts anders als eine Lockerung der Grenzwerte. Der Verein Schutz vor Strahlung ist überzeugt: Der Korrekturfaktor verletzt das Umweltschutzgesetz sowie die Verfassung erheblich und führt zu den aktuell chaotischen Zuständen beim Mobilfunkausbau. Unser Verein fordert den Bundesrat auf, den Korrekturfaktor ersatzlos abzuschaffen und dadurch Rechtsgleichheit und Rechtssicherheit wieder herzustellen.

Wie es zum Korrekturfaktor kam

Im Jahr 2017 eröffnete das Bundesamt für Kommunikation (BAKOM) die Diskussion um die neuen 5G-Frequenzen. Die Mobilfunkbetreiber bemängelten damals, sie könnten wegen der strengen Grenzwerte die Frequenzen nicht oder nur teilweise kaufen und nutzen. Indessen regte sich in der Bevölkerung immer grösserer Widerstand gegen 5G. Zugleich lehnte das Parlament zweimal eine Grenzwertlockerung ab. Trotz gleichbleibender Grenzwerte versteigerte die ComCom die Frequenzen – die Mobilfunkbetreiber kauften sie für insgesamt rund 380 Mio. Franken.
Es kann sein, dass der Bundesrat den Betreibern vor der Versteigerung eine «Erleichterung» für adaptive Antennen versprach. So verabschiedete er an Ostern 2019 einen neuen, schwammigen Passus unter Ziffer 63 in der Verordnung über den Schutz vor nichtionisierender Strahlung (NISV) – einen Vorläufer der Korrekturfaktor-Regelung. Mit diesem neuen Passus setzten chaotische Zustände ein, die andauern und sich von Tag zu Tag verschlimmern.
Bevor der Sinn des Passus geklärt war, stellten die Mobilfunkbetreiber ab 2019 hunderte von Baugesuchen. Die Bevölkerung befürchtete damals, dass die adaptiven Antennen viel stärker strahlen als im Baugesuch angegeben, während die Kantone und Gemeinden über Rechtsunsicherheiten klagten. Daraufhin veröffentlichte das Bundesamt für Umwelt eine Vollzugsempfehlung für adaptive Antennen, in der erstmals die Anwendung von Korrekturfaktoren empfohlen wurde. Mehrere Rechtsgutachten ergaben, dass mit dem Korrekturfaktor eine Zunahme der Strahlung verbunden ist und – wenn überhaupt – nur der Bundesrat befugt ist, Korrekturfaktoren einzuführen. Trotz riesigem Protest aus der Bevölkerung sowie einem Umfrageresultat, wonach überwältigende 85 % der Teilnehmenden die Lockerung der Grenzwerte für 5G ablehnten, führte der Bundesrat im Dezember 2022 den Korrekturfaktor ein.

Die Regeln für den Korrekturfaktor: das «Buebetrickli»

Bis 2019 mussten alle Antennen jederzeit die Anlagegrenzwerte und die maximal bewilligte Abstrahlung (Sendeleistung in W ERP) einhalten. Ab 2021 / 2022 gab es in der NISV für adaptive Antennen neue Vorschriften und eine neue Vollzugsempfehlung. Diese hielten fest: Die von einer adaptiven Antenne abgegebene Strahlung darf in den Unterlagen zum Baugesuch «korrigierte » - und damit unwahre – Angaben zur abgestrahlten Strahlung enthalten. Es darf eine grössere Leistung abestrahlt werden, als angegeben wird. Das ist die Anwendung des Korrekturfaktors.

In der Praxis ist im Baugesuch für eine adaptive Antenne beispielsweise eine Sendeleistung von 200 W ERP vermerkt. Diese Antenne strahlt aber zu Spitzenzeiten unter Anwendung des Korrekturfaktors mit einer Leistung von 1‘800 W ERP. In einigen Wohnungen rund um die Antenne kommt es dadurch zu Grenzwertüberschreitungen. Im extremsten Fall sind zu Spitzenzeiten 16 V/m anstelle der erlaubten 5 V/m möglich, denn die Sendeleistung – und damit auch der Grenzwert –müssen nur noch im Durchschnitt eingehalten werden.

Angaben im Standortdatenblatt

Adaptive Antennen dürfen den Korrekturfaktor anwenden, wenn sie für 8 oder mehr Sub Arrays (Anzahl verbauter Antennengruppen) deklarieren werden und im Standortdatenblatt in der Zeile „adaptiver Betrieb“ ein Häkchen gesetzt wird. Zudem muss ein „power lock“-System sicherstellen, dass die die bewilligte Sendeleistung im Mittel über sechs Minuten eingehalten werden (Selbstkontrolle). Es ist nicht ersichtlich, wie stark die adaptive Antenne tatsächlich in Spitzenzeiten strahlt.

Urteil im Fall Wil: Bundesgericht pfeift den Bundesrat zurück

Zahlreiche adaptive Antennen wurden ohne Korrekturfaktor bewilligt, mit dem Versprechen der Behörden, dass die Grenzwerte jederzeit eingehalten würden. Dennoch wurde bei diesen Antennen einige Zeit später die Anwendung des Korrekturfaktors zugelassen und sie konnten die Grenzwerte überschreiten.

Der Bundesrat beschloss nämlich unter Ziffer 62 Absatz 5bis, dass die Aufschaltung des Korrekturfaktors keine Änderung sei. Das Bundesgericht sieht dies in seinem Urteil vom 14. April 2024 jedoch anders: «Die Anwendung des Korrekturfaktors auf bisher nach dem "Worst-Case-Szenario" bewilligte adaptive Antennen führt zu Leistungsspitzen, die deutlich (je nach Korrekturfaktor bis zu 10 Mal) über der bisherigen maximalen Sendeleistung liegen können.» Diese Leistungsspitzen könnten durch Anwohner nicht erkannt werden, weil Strahlung unsichtbar sei. Daher sei diese Änderung baubewilligungspflichtig. Die Folge dieses Entscheids ist nun, dass für rund 3‘000 Antennen, die den Korrekturfaktor ohne Baubewilligung anwenden, ein neues Baugesuch eingereicht werden muss. Falls kein Baugesuch eintrifft, müssen die adaptiven Antennen gedrosselt oder – falls der Umbau auf adaptive Antennen ohne Baubewilligung erfolgte – ganz abgeschaltet und rückgebaut werden.

Der Korrekturfaktor muss abgeschafft werden!

Der Widerstand gegen die adaptiven Antennen und insbesondere den Korrekturfaktor ist riesig. Ständig sind 3‘000 Baubewilligungsverfahren blockiert, da fast gegen jede Umrüstung und jeden Neubau Einsprache erhoben wird. Bis Ende Jahr 2024 könnten nochmal maximal 3‘000 weitere Baugesuche hinzukommen. Der Anteil der Bevölkerung, der sich durch die Strahlung gestört fühlt, stieg schon im Jahr 2023 auf 23 % und über 60 % erachtet gemäss dem Bundesamt für Statistik Mobilfunkstrahlung als riskant.

Der Grund für diesen immensen Widerstand ist einfach: Niemand kann sich erklären, warum adaptive Antennen, die gemäss den Behörden effizienter sind und mehr Daten mit weniger Strahlung übertragen können, stärker als alle anderen Antennentypen strahlen dürfen. Die Behörden geben an, adaptive Antennen gäben in bestimmte Richtungen weniger Strahlung ab als in andere und führten insgesamt zu weniger Strahlung. Dies sei der Grund, weshalb die Antennen kurzzeitig stärker strahlen dürften. Diese Erklärung ist für die Anwohner nicht nachvollziehbar. Warum sollten die Anwohner stärker belastet werden dürfen, nur weil Orte, wo sich niemand aufhält, schwächer belastet sind?

Die Bevorzugung von adaptiven Antennen ist aus rechtlicher Sicht unzulässig

Der Bund hat gemäss unserer Bundesverfassung dafür zu sorgen, dass schädliche oder lästige Einwirkungen wie Luftverunreinigungen, Lärm und Strahlung vermieden (nicht bloss reduziert) werden! Das Umweltschutzgesetz schreibt  vorsorgliche Emissionsbegrenzungen vor, von denen die Grenzwerte abgeleitet wurden. Diese dürfen nur gelockert werden, wenn die Begrenzung technisch oder betrieblich nicht möglich oder wirtschaftlich nicht tragbar wäre (Art. 11 Abs. 2 USG). Adaptive Antennen sind effizienter als konventionelle Antennen. Sie sind somit wirtschaftlicher als bisherige Antennen. Dass die bisherige Begrenzung (Spitzen-Grenzwert von 5 V/m) technisch und betrieblich möglich ist, bestätigt auch das Bundesgericht: «Im Übrigen können adaptive Antennen auch ohne Anwendung eines Korrekturfaktors adaptiv betrieben werden, mit den sich daraus ergebenden Vorteilen». Eine Lockerung der Grenzwerte und die Anwendung von Korrekturfaktoren sind daher nicht zulässig.

Die Strahlung in der Nachbarschaft von adaptiven Antennen mit Korrekturfaktor ist zeitweise sehr viel höher als die Strahlung rund um bisherige Antennen. Somit werden die Nachbarn verschiedener Antennen ungleich behandelt. Die Verfassung und das Umweltschutzgesetz schützen uns Menschen vor Ungleichbehandlung und Schäden, sie schützen aber nicht die Antennen davor. Folglich wäre eine Ungleichbehandlung der Anwohner nur dann zulässig, wenn bei adaptiven Antennen kleinere Gesundheitseffekte nachgewiesen wären als bei bisherigen Antennen. Doch das Gegenteil ist der Fall: Pulsationen von adaptiven Antennen gelten als gefährlicher.

Der Korrekturfaktor ist ein Ärgernis

Ein grosses Ärgernis für die Anwohnerinnen und Anwohner sind die intransparenten Standort-Datenblätter in den Baugesuchsunterlagen. Man kann darin nicht erkennen, wie stark die Strahlung zu Spitzenzeiten ist. Einige Werte sind Mittelwerte, andere sind Spitzenwerte, und diese beiden werden quadratisch summiert. Das Standort-Datenblatt von adaptiven Antennen ist daher auch aus mathematischer Sicht höchst unklar.
Zudem ist nicht nachvollziehbar, weshalb der Einsprache-Radius bei unterschiedlichen Korrekturfaktoren immer derselbe ist. Bisher hing er von der Spitzenleistung ab: Je grösser die Leistung der Antenne, umso grösser der Einsprache-Radius. Mit der Einführung des Korrekturfaktors wurde auch diese Ungerechtigkeit neu geschaffen.

Die Lösung

Der Korrekturfaktor muss vollständig abgeschafft werden. Es gilt, des Chaos von Grund auf zu beseitigen. Nur so kehrt wieder Ruhe ein in die Situation. Jede weitere Änderung von Gesetzen, Verordnungen, Vollzugsempfehlungen oder  Berechnungsmethoden führt nur zu einer weiteren Verhärtung der Fronten, Unzufriedenheit bei allen Beteiligten und schliesslich zu grossem Vertrauensverlust. Niemand mehr wird noch den Überblick haben, und die Gerichte leiden noch mehr unter der Menge der Rechtsverfahren und ständig ändernden Vorschriften. Weitere Bundesgerichtsentscheide mit rückwirkenden Auswirkungen wären zu erwarten. Dies ist zu vermeiden. Der Bundesrat muss die Rechtssicherheit wieder herstellen: Das Schutzniveau von 2019 soll wieder hergestellt werden. Anstatt 5G voranzutreiben, soll die Schweiz vollständig mit strahlungsfreier Glasfaser erschlossen und so das Mobilfunknetz entlastet werden.

Auch die BPUK – das sind Vertreter der Kantonsregierungen – forderte nach der Einführung der Korrekturfaktoren eine NISV-Revision: «Dabei soll nicht die Technologie, sondern der Schutz der Bevölkerung in den Vordergrund gestellt werden.» Das ist auch unser Anliegen.

Lockerung der vorsorglichen Emissionsbegrenzung ist unzulässigMedienmitteilung: «Jetzt den Korrekturfaktor abschaffen und 3’000 Einspracheverfahren verhindern!»

Nach dem Bundesgerichtsentscheid «Wil SG» ist klar: Rund 3‘000 Mobilfunkantennen funktionieren derzeit mit nicht bewilligter, zu grosser Leistung. Die meisten von ihnen überschreiten durch die Anwendung des sogenannten «Korrekturfaktors» regelmässig die Grenzwerte. Die Kantone empfehlen daher den Gemeinden neu, von den Mobilfunkbetreibern ein neues Baugesuch oder das Ende des Korrekturfaktor-Betriebs zu verlangen. Damit ist bis Ende Dezember 2024 eine Verdoppelung der hängigen Verfahren von heute 3‘000 auf 6‘000 zu erwarten. Diese Situation ist für Behörden, Antennen-Anwohner und Gerichte untragbar geworden. Hauptursache für diese Einspracheflut sowie das Ausbau-Chaos sind der Korrekturfaktor und die damit verbundenen Grenzwertüberschreitungen. Die stetige Zunahme an Mobilfunkanlagen, trotz Abschwächung des mobilen Datenwachstums, verstärkt das Problem. Der Verein Schutz vor Strahlung und die Einsprechenden verlangen unisono die Abschaffung des Korrekturfaktors und einen Antennen-Neubau-Stopp! Stattdessen sollen das Glasfasernetz zur Entlastung des Mobilfunknetzes (bis minus 30% der Antennen durch Trennung von Innen-/Aussenbereich) ausgebaut sowie eine Mobilfunkplanung mit Mitspracherecht eingeführt werden. Nur so nimmt das immer komplexer werdende Mobilfunk-Ausbau-Chaos ein Ende und macht den Weg frei für Rechtssicherheit für alle Beteiligten.

Medienmitteilung: «Jetzt den Korrekturfaktor abschaffen und 3’000 Einspracheverfahren verhindern!»

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